Schnee, der auf die Baumkronen fällt, verdunstet zum einen dort, zum anderen fällt er ungleich verteilt hinunter und verhindert den schichtweisen Aufbau der Schneedecke. Ebenso sind die Wind-, Temperatur- und Strahlungsverhältnisse besonders in Wäldern mit einem hohen Fichtenanteil durch ihr immergrünes Kronendach anders als im Freiland, was die Bildung von Schwachschichten verringert.
Der Klimawandel jedoch verändert die Rahmenbedingungen für Naturgefahren und Waldstörungen durch Windwurf und Borkenkäfer, was die Intensität, Häufigkeit und Verteilung von Schadereignissen erhöhen kann. Dabei handelt es sich vermehrt um sogenannte „Compound Events“, die durch eine Kombination mehrerer wetter- und/oder klimabedingter Gefahren charakterisiert sind.
Um diese Auswirkungen auf die Schutzwirkung von Wäldern zu verstehen, erhebt das Naturgefahren-Team am Bundesforschungszentrum für Wald (BFW) in Innsbruck im Interreg Alpine Space-Projekt MOSAIC zahlreiche Daten. Das BFW schaut sich genauer an, wie sich der Schneedeckenaufbau und die Schutzwirkung von Wäldern gegen Lawinen nach Sturmschäden und Borkenkäferbefall verändert. Dabei werden geräumte und nicht geräumte Waldflächen verglichen. Eine Frage ist, wie lange stehendes und liegendes Totholz noch eine Schutzwirkung aufweist und ab wann die Verjüngung diese übernehmen kann. Gerade bei großflächigen Windwurf- oder Borkenkäferschäden im Schutzwald wie in Osttirol und Oberkärnten müssen bei der Aufräumung Prioritäten gesetzt werden.
Das MOSAIC-Konsortium besteht aus zwölf Partnern aus sechs Alpenländern und wird von der Europäischen Union kofinanziert. Gemeinsam werden Daten zu wetter- und klimabedingten Schadereignissen in den Alpen gesammelt und harmonisiert, um daraus Trends zu modellieren und diese Informationen den im Naturgefahrenmanagement tätigen Personen zugänglich zu machen. Basierend auf den MOSAIC-Forschungsergebnissen, werden etablierte Naturgefahren- und Risikomodelle aktualisiert und Open Access zur Verfügung gestellt. Ein alpenweites Netzwerk von Waldlaboratorien soll das Bewusstsein von Waldbesitzer:innen, Förster:innen, Naturgefahren – und Risikomanager:innen, aber auch der Öffentlichkeit schärfen. Ein Waldlaboratorium ist das Modell-Wildbacheinzugsgebiet Rindbach bei Ebensee in Oberösterreich, weitere Laboratorien werden in Frankreich, Italien, der Schweiz und Slowenien eingerichtet.
„Eine Frage ist, wie lange stehendes und liegendes Totholz
noch eine Schutzwirkung aufweist und ab wann
die Verjüngung diese übernehmen kann.“
Dip.-Ing. Michaela Teich
Sensoren mit der Lawine talwärts schicken
Während sich MOSAIC mit dem Alpenraum befasst, kann man Forschung auch vor der Haustüre betreiben. Das Institut für Naturgefahren des BFW befindet sich in zentraler Lage in Innsbruck, in der Hofburg. Institutsleiter Jan-Thomas Fischer kann direkt von seinem Büro auf die spektakuläre Kulisse der Nordkette blicken und könnte rein theoretisch dort die für Forschungszwecke ausgelösten Lawinen beobachten, die das Hafelekar runtergehen. Rein theoretisch, denn den Lawinenforscher zieht es zum Ort des Geschehen. Rüber zur Hungerburgbahn und mit ihr rauf zur Bergstation und weiter in die Höhe.
Für Lawinenforscher:innen stehen immer zwei große Fragen im Raum: Welches Zerstörungspotenzial hat die Lawine? Und wie weit kommt sie? Die meisten Simulationswerkzeuge wurden für sehr große bis zu extrem großen Katastrophenlawinen mit 100.000 bis eine Million Kubikmeter Schnee ausgelegt, die Lawinen im Hafelekar gehören mit bis zu 10.000 Kubikmeter zu den mittleren bis großen Lawinen.
Das Naturgefahrenteam geht im Projekt AvaRange „näher“ an die Lawine heran. In das Innere von Schneemassen werden Sensoren eingebracht, die in robusten orangen und grünen Hüllen verpackt sind. Anschließend wird von der verantwortlichen Kommission eine Lawine abgesprengt. Mit den Sensoren wird versucht zu messen, was der Partikel innerhalb der Lawine erlebt. Die Lawinenforscher:innen interessiert Rotation, Geschwindigkeit und Beschleunigung. Aus diesen In-Flow-Daten mit hoher Präzision lassen sich Rückschlüsse auf das Fließverhalten ziehen. Jetzt zeichnet sich schon ab: Direkt nach der Auslösung kommt es zu einer schnellen Beschleunigung, dann fließt die Lawine mit rund 50 Kilometer pro Stunde gleichmäßig dahin, bis sich beim Anhalten Rotationsbewegungen einstellen. Die Untersuchungen erfolgen durch das Institut für Naturgefahren des BFW in Kooperation mit der TU Berlin und Universität Innsbruck und werden von der deutschen Forschungsgemeinschaft und dem FWF Wissenschaftsfonds finanziell unterstützt.
Obwohl es kein primäres Forschungsziel von AvaRange ist, könnte das Projekt auch zu mehr Sicherheit im Wintersport beitragen. Versteht man den Partikeltransport und die Bewegungen in Lawinen besser, könnte der Verschüttungsort von Skifahrer:innen besser vorhergesagt oder sogar mit Simulationswerkzeugen modelliert werden. Die Verbindung von Feldmessung mit Computersimulationen ist dafür der Schlüssel – hierbei helfen den Lawinenforscher:innen die digitalen Werkzeuge des Open Source-Frameworks AvaFrame. Die Forscher:innen überlegen bereits, ob sie in einem der nächsten Schritte Sensoren in Lawinenrucksäcken mitschicken – ein Beispiel für angewandte Naturgefahrenforschung, die einen Beitrag zu mehr Sicherheit im alpinen Raum leistet.
Fakten & Details
Wälder mit einer Schutzfunktion umfassen 42 Prozent der österreichischen Waldfläche. (Quelle: BML, Hinweiskarte Schutzwald in Österreich)
Wintersaison 2022/23:
In 156 Lawinenunfällen waren 439 Personen involviert, davon wurden 64 verletzt, 15 Personen verunglückten tödlich
(Quelle: österreichische Lawinenwarndienste, Plattform LAWIS).
Weitere Informationen
www.schutzwald.at
www.alpine-space.eu/project/mosaic
www.avarange.org
www.avaframe.org